Der Fall Weinstein: Niedergang eines Systems

Für Kinofreunde ist die Filmindustrie in Hollywood wie ein Traum, eine Fantasiewelt,

aber für die Frauen, die dieser Welt angehören, kann sie zum Albtraum werden. Seit den Anfängen des Studiosystems in den 1920er Jahren hat sexueller und Machtmissbrauch Tradition. Die schockierende Vorwürfe, die immer zahlreicher gegen Filmproduzent und Mitgeschäftsführer Harvey Weinstein erhoben werden, zeigen einmal mehr auf, wie enorm verbreitet dieser Missbrauchsapparat, ein Erbe des alten Hollywood und derer, die hier das Sagen hatten, immer noch ist.

Darryl F ZanuckStudioverantwortliche wie Louis B Mayer (MGM) und Darryl F Zanuck (Photo) der Twentieth Century-Fox behandelten Stars eher wie Vieh und nicht wie talentierte Künstler. In Hollywood ist Ausbeutung kein Fremdwort. Zanuck soll in den 1940ern den Begriff „Casting Couch“ geprägt und als Praxis erfunden haben. Bis heute sind Begriff und Praxis dieser „Besetzungscouch“ leider immer noch sehr populär und in Umlauf, was Weinsteins aggressives Verhalten Frauen gegenüber am besten beschreibt. Die „Casting Couch“ in Hollywoods umfangreichem Studiosystem wurde im Laufe der Jahrzehnte so oft neu bezogen, dass sie zum Bestandteil seines kulturellen Allgemeinguts geworden ist.

Das Empfinden, unantastbar zu sein und über absolute Macht zu verfügen, könnte erklären, warum dieser Mann nur seinen eigenen Regeln und Überzeugungen gehorchte: Ich glaube an mich und du musst auch an mich glauben. Aber genauso wie die aus der Mode gekommene und in Vergessenheit geratene Stummfilm-Diva in dem frühen Film „Sunset Boulevard“ muss sich Weinstein jetzt anhören, wie diejenigen, die bis jetzt stumm waren, anklagen, was, wie manche glauben, nicht nur dem Multimillionär der patriarchischen Filmindustrie vorbehalten ist.

Obwohl Weinstein weit weg von den Hollywood Studios in New York saß, hat er sich dort sein eigenes Reich aufgebaut. Seine Projekte finanzierte er nach einer eigenen todsicheren Methode. Er verstand es, Märkte zu monopolisieren und den Wettbewerb auszuschalten. Wie eine Spinne saß er mitten im Netz der internationalen Vertriebsorganisationen, die immer – und gut – zahlten. Spezialisiert war er auf Kassenerfolge.

Warum kann es in Europa keinen Harvey Weinstein geben?

Ganz einfach. Auf der Suche nach Finanzmitteln wird auf beiden Kontinenten völlig unterschiedlich vorgegangen.

Nehmen wir beispielsweise Frankreich. Das Filmfestival in Cannes ist der größte internationale Markt der Filmindustrie. Eine Riesenparty mit Wein und Käse auf Canapés. Aber die französische Filmindustrie finanziert sich größtenteils aus Fördermitteln, mithilfe institutioneller Anleger und durch Steuervergünstigungen. Das Kernstück bildet das „Centre National de Cinématographie“ (CNC). Es funktioniert wie eine Behörde. Seine Hauptaufgabe besteht in der Förderung französischer Filme. Und dafür fließt jede Menge Geld. Das Jahresbudget beträgt 1,2 Milliarden $.

Außerdem sind die französischen Fernsehanstalten gehalten, einen Teil ihres Budgets in europäische (aber hauptsächlich französische) Filme zu investieren. Der französische Privatsender Canal Plus beispielsweise wurde dazu gezwungen, eine Abmachung mit der Regierung zu treffen, derzufolge 12 Prozent, also rund 200 Millionen Euro, jährlich in ihren Topf fließen. Dieses Vertragsverhältnis endet 2019. Was kommt danach?

Klaus Schaefer, FilmFernsehFonds Bayern, Kirsten Niehuus, Medienboard Berlin-Brandenburg, Frédérique Bredin, présidente du CNC, Petra Müller, Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen, Carl Bergengruen, MFG Medien- und Film Gesellschaft Baden-Württemberg
Klaus Schaefer, FilmFernsehFonds Bayern, Kirsten Niehuus, Medienboard Berlin-Brandenburg, Frédérique Bredin, présidente du CNC, Petra Müller, Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen, Carl Bergengruen, MFG Medien- und Film Gesellschaft Baden-Württemberg

Dann sind da noch die Förderung durch die Europäische Union (und ihre Regionen) sowie Anreize für großzügige Steuervergünstigen, wodurch zahlreiche Filme von ihrer Steuerbelastung bis zu 30 Prozent der Produktionskosten absetzen können. Ähnlich gelagert ist das System in Spanien und im Vereinigten Königreich. In Deutschland stützt es sich auf die Unterstützung durch den öffentlichen Sektor, Förderung durch internationale Koproduzenten und Vermarktung der Medienrechte an TV-Netzwerke.

Der Vorteil dabei liegt darin, dass auch Filme, die sonst niemals produziert worden wären, finanziert werden. Und der Nachteil, dass auch Filme finanziert werden, die niemals hätten produziert werden sollen.

Auch Jurys spielen in Europa eine wichtige Rolle. Sie bestimmen, wer gefördert wird. Kriterien dafür sind nicht nur die Qualität eines Projekts, sondern auch, wer daran beteiligt ist. Wer nicht zur Familie gehört, geht leer aus. Newcomer und Nachwuchstalente bleiben außen vor.

Jenseits des großen Teichs wird Förderung einfacher gehandhabt: man braucht nur eine Idee für einen Film und einen Geschäftsplan vorzuzeigen. Da die meisten Filme privat finanziert werden, stellt sich bei den Geldgebern die entscheidende Frage, wie viel Geld das Projekt wohl einfahren wird.

Ein gutes Beispiel dafür ist „Birth of a Nation“ von DW Griffith. Niemand war gewillt, 1915 einen Historienfilm zu finanzieren. So ging Griffiths bei privaten Investoren, die letztendlich mit dem Film ein Vermögen verdienten, Klinken putzen. Damit wurde „Birth of a Nation“ der Ausgangspunkt für eine auf Privatinvestitionen basierenden Industrie.

Zusammenfassend zum Fall Weinstein

Diese wiederholten, ekelhaften Vorfälle stießen Weinstein vom Sockel und kosteten ihn seinen guten Ruf. Das ist aber sicherlich nicht der Grund, warum die Weinstein Company viel zu verlieren hat.

100 Jahre lang konnten die Tycoons ungestraft ihren Machtapparat ausnutzen und das Geschäftsmodell der Filmindustrie ebenso lang unverändert aufrechterhalten. Die gesamte Wertschöpfungskette eines Films ist jedoch mittlerweile auf Grund der Überlegenheit der digitalen Plattformen und ihrer Vertriebsnetzwerke völlig überholt. Und damit ist der ganze aktuelle Prozess veraltet. Auf den Filmmärkten in Cannes, Berlin und Los Angeles sieht man Vertriebsmanager, Makler und sonstige Rechteinhaber mit dem ängstlichen Gesicht von Leuten umhergeistern, die sich Sorgen um ihre Zukunft machen.

Next Pavillon, Cannes film market
Next Pavillon, Cannes film market

Die Digitalisierung macht Schluss mit teuren Kopien. Die Filme gelangen nach dem Abdrehen direkt in die Kinos. Deshalb fragen sich immer mehr Independent-Filmemacher, wozu all diese Zwischeninstanzen gut sein sollen, die ihren Film vermarkten, das Geld kassieren und ihnen am Ende nur Krümel übriglassen. Selbst kleinste Produzenten werden zu Unternehmern und lernen, wie es geht. Es genügt, sich der sozialen Netzwerke zu bedienen, um für ihre Filme zu werben. Das kostet nicht viel und ist viel effizienter.

Was bleibt, sind die Fragen:

Wie kommt es, dass Weinstein erst jetzt, nach so vielen Jahren, wo doch alle über seine schmutzigen Machenschaften Bescheid wussten, zu Fall kommt? Ist es ein Zufall, dass all dies zwei Wochen vor der MIPCOM in Cannes passiert, der international führenden Fachmesse für audiovisuelle Inhalte, und einen Monat vor dem American Film Market in Los Angeles?

Und wer hat Interesse daran, einen Eigentümer eines der umfassendsten Filmkataloge um Kopf und Kragen zu bringen, wo sich doch gerade die Spielregeln ändern?